SOMETHING SOFT AND DARK

Ich blättere immer wieder in Anitas Buch, streife durch Zeichnungen, Fotografien, Collagen, Skizzen, Gemälde, Aquarelle und noch mehr Zeichnungen und Fotografien. Ich fühle mich gefangen in einer kaleidoskopischen Schleife von Bildern … Gesichter, Augen, Lippen, Beine und Körperteile enthüllt und gleichzeitig verborgen. Plötzlich kommt mir Dorothy Vallens in den Sinn, ich kann sie beinahe singen hören, ein Lied über das Tragen von etwas Weichem und Dunklem, Blue Velvet. Dorothy, gespielt von Isabella Rossellini in David Lynchs Film, verkörpert gegensätzliche Modelle der Weiblichkeit. Gleichzeitig begehrenswert und zerbrechlich, verführerisch und zart, zwischen Kontrolle und Selbstaufgabe bewegt sie sich in einem Spannungsbogen von Liebe, Lust, Angst und Gewalt. Sie verweist auf ein Bild der Weiblichkeit, das Anita Frech in ihren frühen Werken aus den 2000er Jahren untersucht und das Bezüge zu Hollywoods Film Noir der 40er Jahre aufweist. Geschichten von Frauen, die zwischen dem Rampenlicht und der Dunkelheit menschlicher Abgründe gefangen sind. Eine Serie von Schwarz-Weiß Zeichnungen und Gemälden mit dem Titel “Girl Noir”, in der Filmikonen, Starlets und anonyme Opfer von Femiziden wie in einem Spiegelsaal aufeinander treffen und die Frage aufwerfen: Mit welcher Figur identifiziere ich mich? Die Portraits verschmelzen mit einer nachfolgenden Serie mit dem Titel “My Angel You”, in der das Identifikationsspiel weiter getrieben wird, da die porträtierten Frauen Züge von immer noch allgegenwärtigen Supermodels der Neunzigerjahre wie etwa Christy Turlington, Linda Evangelista und Stella Tennant aufweisen. Ihre Posen erinnern an die aus Peter Lindbergh Settings, ihre Augen stark mit Kajal geschminkt, ihr Blick direkt und auffordernd. Diese Serie führt zu einem “Selbstporträt mit Colour Me Green” aus dem Jahr 2005, einem Foto, das Anita in einem weißen T-Shirt vor ihrem nackten Selbstporträt in Grün und Dunkelrot zeigt. In beiden Bildern begegne ich Anitas Blick, der ebenfalls direkt und auffordernd ist und so intensiv, dass ich vergesse, dass es einen Filter zwischen mir und diesen Augen in den Porträts gibt. Ein “Filter” der Linse der Fotokamera.

Dieses Bild versinnbildlicht Anitas künstlerischen Prozess, deutet auf ihre Tendenz hin, zwischen Medien und Disziplinen zu wechseln. Thematisch scheint ihre Arbeit im ständigen Wechselspiel zwischen dem Selbst und seinem Doppel aufgebaut, strukturell als ein kontinuierlicher Austausch zwischen den verschiedenen disziplinären Feldern: Malerei, Fotografie, Mode und Architektur. Die Disziplin, in der sich einige dieser Ausdrucksformen treffen, ist Performance und Anita ist eine Performerin.

Sie performt für die Kamera.

Das Performen für die Kamera hat eine lange Geschichte, so lange wie die Geschichte des fotografischen Mediums selbst. Simon Baker behauptet: “Fotografie war schon immer performativ und seit ihrer Erfindung war Performance, ob bei SchauspielerInnen, ChoreografInnen oder KünstlerInnen, immer von Fotografie abhängig. Doch was die Beziehung zwischen Performance für die Kamera erschwert, ist der Grad in dem die Fotografie für ihre Übersetzung von performativen Akten über eine bloße Dokumentation hinausreichend, Anerkennung findet”. 

Es gibt eine faszinierende Geschichte über einen der Väter der Fotografie, Hippolyte Bayard, der im Gegensatz zu Fox Talbot oder Daguerre für seine Erfindung keine Anerkennung fand. Frustriert darüber porträtierte er sich 1840 als ertrunkener Mann und führte damit vielleicht die erste Performance für eine Kamera durch.

Anita Frech performt ebenfalls ohne Publikum und ihre Handlungen werden mit einem Selbstauslöser festgehalten. Mehr als eine Fotografin agiert sie als Modell in visuellen Erzählungen, die an Filmsequenzen oder Kontaktabzüge eines Mode-Fotoshootings erinnern.

In Fotoserien wie “Factory Land”, “Anatomy of the Artist” oder “Boopoobidou in the Augarten” versinkt sie, posierend und vor dem männlichen Auge der Kamera, in die Rolle unzähliger junger und schöner Mädchen. Indem sie Phantasien oder alternative Realitäten durch ihr Selbstbild ausagiert, kreiert sie ein ganzes Vokabular an Weiblichkeit, das durch mächtige Kommunikationsmaschinen wie Kino und Mode vorgeschlagen oder aufgezwungen wird. Das ästhetische Register, das sie verwendet, ist jedoch nicht jenes der leicht bedienbaren Pret-À-Porter Mode, sondern viel mehr der lässige, schmutzige, DIY-Stil der Neunzigerjahre, der von i-D, Dazed and Confused popularisiert und später von bewußt mehrdeutigen Mode/Kunstprovokationen, wie der Bernadette Corporation, BLESS und ähnlichen, erkundet wurde.

Durch ihre Arbeit begibt sich Anita Frech sowohl ins Rampenlicht, als auch hinter die Kulissen, agiert als Regisseurin, Stylistin und Kamerafrau und lässt so die Barrieren zwischen AutorInnenschaft und Identität kollapieren.

“Identität … was ist Identität?” – fragt Wim Wenders in seinem “Notebook On Cities & Clothes” – “Zu wissen, wohin man gehört? Zu wissen, was man wert ist? Zu wissen, wer man ist?“ Wir erschaffen ein Bild von uns selbst und versuchen, diesem Bild gerecht zu werden. Ist das das, was wir als Identität bezeichnen: die Übereinstimmung zwischen dem Bild, das wir von uns selbst geschaffen haben und uns selbst?”

Diese Fragen stellt Wenders in einer Dokumentation über Yohji Yamamoto und bewegt sich zwischen Orten der Konzeption und Herstellung von Mode – Studio, Atelier, Backstage und dem Ort, an dem Mode “lebt”, den Straßen einer Metropole. “Städtische Identität ist ‘für andere sein'”, behauptet Patrizia Calefato und fährt fort: “Städtische Identität ist eine Frage von Image, der Identität in und mit der Menge.”

Anita Frech wählt als Orte ihrer performativen Fotosessions Plätze kollektiver Rituale: einen Disco-Club in “Factory Land”, einen Park in “Boopoobidou in the Augarten” und eine Kapelle in “Prayin”. In all diesen Serien gibt es jedoch keine Menschenmenge. Die Szenerie ist leer, verlassen und entfremdet und repräsentiert so einen perfekten Rahmen für das Inszenieren ihrer Persönlichkeiten, ihrer Masken, ihrer gestalteten Selbstbilder.

Die Beziehung zwischen dem Subjekt und der Umgebung apostrophiert die Mechanismen der Mode als Bild. Frech setzt sich mit Mode als semiotisches Konstrukt, einem Set von Zeichen, auseinander. Ihre Outfits sind sorgfältig gestylt und fügen sich  “natürlich” in die Handlung. In einigen Serien von “FactoryLand” trägt sie einen klassischen Tanzanzug und Stiefel aus dem frühen 20. Jahrhundert mit roten Schuhbändern, ein Outfit, das sie als „Uniform” bezeichnet. Diese modebewusste Haltung stammt aus ihrer Ausbildung zur Modedesignerin, als sie als außerordentliche Hörerin die Modeklasse an der Universität für angewandte Kunst in Wien besuchte und anschließend einen Bachelor-Abschluss in der Modeschule Hetzendorf machte. Mode spielte, ebenso wie Architektur bereits eine bedeutende Rolle in ihrer Kindheit. Ihr Vater war Bauingenieur, während ihr Urgroßvater mütterlicherseits in den 1910er und 20er Jahren mit Otto Wagner an einigen Projekten zusammenarbeitete. Ihre Mutter hatte ein Textilgeschäft und Anita erinnert sich daran, dort unzählige Stunden verbracht zu haben. Zwischen 1994 und 1997 besuchte sie die Modeschule, erkannte jedoch bald, dass sie mehr an Kunst als an Design interessiert war. Ihre künstlerische Praxis ist jedoch stark modebezogen, da sie Mode als Image und Form materieller Schöpfung thematisiert. Materielle Schöpfung wird hier als Drang verstanden, zu hinterfragen, wie Kleidung gemacht wird und was die Beziehung zwischen Stoff und Körper ist. Diese beiden Elemente, der Körper und der Stoff, markieren die Essenz der Modeschöpfung und sind gleichzeitig wesentliche Elemente der Malerei.

Als ich Anitas Studio besuchte, war das erste Stück, das ich sah, eine Staffelei mit einem klassischen Holzrahmen, auf dem eine rohe Leinwand drapiert war, viel zu groß für den Rahmen. Die Absicht Anita`s war, ein Bild zu schaffen, ein Gefühl, nicht in ein Kleid / die Haut zu passen – noch nicht oder nicht mehr. Mit einer einfachen Geste schuf Anita eine skulpturale Arbeit, in dem der Rahmen zum Körper wurde und die Leinwand tautologisch zu dem, was sie ist: ein Stück Stoff. Interessanterweise zeigt das erste selbst inszenierte Foto, das Anita 1991 realisierte, ihren nackten liegenden Körper bedeckt von drapiertem Stoff, der an eine weiße Leinwand erinnert.

Dieses Wechselspiel zwischen Körper und Stoff wird in ihrer Arbeit immer wieder auftauchen und in den Curtain Series aus 2012/13  auf die Spitze getrieben. Körper und Drapierung verschmelzen in diesen Fotos zu einem. Der Effekt, den sie erzeugen, erinnert an die Dynamik antiker Reliefs oder noch mehr an die Auseinandersetzung mit den klassischen Motiven der Surrealisten, wie sie in den Werken von Jean Cocteau, Man Ray, Horst P. Horst oder in von George Hoyningen-Huene fotografierten griechisch inspirierten Aufnahmen von Madeleine Vionnets Kleidern zu finden ist. Wie in einigen dieser surrealen Werke ist auch in Anitas Fotos die klassizistische Ästhetik mit Eros und verführerischen Anspielungen aufgeladen, die der verschleierte, verborgene, fast abstrahierte nackte Körper hervorrufen kann. Auch das ist ein Erbe von Modeerzählungen und ihrer Neigung zur Idealisierung, Ästhetisierung und Illusionierung der Perfektion.

RADICAL CHIC … NONCONFORMIST … OBSESSIVE … ENTHUSIASM … ARTIST

Das sind die Begriffe, die Anita in ihrem “Radical Chic Dress” von 1997 eingraviert hat, demselben Jahr, in dem sie ihre Modeausbildung abschloss. Das Kleid ist aus bemalter Leinwand gefertigt und ein flach geformtes A-Modell, das an YSLs berühmte Mondrian-Kollektion erinnert. Es ist interessant, diese frühe Arbeit in Beziehung zu jener von 2015 mit dem Titel “Torn Dress” zu setzen. Auch dieses Werk ist mit Leinwand gemacht, die sowohl als malerische Oberfläche als auch als “Körper” des Gemäldes dient. Die Leinwand präsentiert ihre interne Webstruktur als leicht beschädigt, was auf eine Wunde, eine Narbe hinweist. Dieser Schnitt ruft beim Betrachten dieses kleinformatigen Kunstwerks fast ein Schmerzgefühl hervor. Als ob die Leinwand die Rolle des Körpers übernommen hätte, zerrissen und zerfetzt.

Im Jahr 1998 machte Anita ein weiteres Werk, das mit “Torn Dress” resoniert. Es handelt sich um einen C-Print mit dem Titel “Pattern / Symbolic Wounds”, der einen nackten Oberkörper mit geritzter Haut und eine Zeichnung von Schnittformen auf dem Abzug zeigt. Der Körper und das Image, das er durch die Kleidung bekommt, sind hier übereinandergelegt und erzeugen einen seltsamen tautologischen Effekt.

Dieses Bild erinnert mich an meine ersten Assoziationen beim Anblick dieses Buches und von Anitas Werk als Ganzes, das sich in einem Wechselspiel von Zerbrechlichkeit und Sinnlichkeit, Zärtlichkeit und Verführung, von Hingabe und Kontrolle bewegt … Wie ein Lied über das Tragen von …etwas weichem und dunklem …

Dobrila Denegri
Rom, 2023

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