FUSSNOTEN

Text zum Kunstbuch “Muttertier im Vaterbauch”

Was zählt denn?! Zählt eine Zahl, die Anzahl der Seiten, die 387, die man zählen und doch nicht zusammenzählen kann, nicht summieren kann, selbst dann nicht, wenn diese zusammen ein Buch ergeben, ein Abbild von Jahren, die sich hier aneinanderreihen und doch dagegen sperren, einer Summe das Wort zu reden, eher schon einem Ergebnis, im Sinne dessen, was sich ergeben hat, sich ereignet hat, halb gesucht und verfolgt, letztlich auch gefunden als etwas, das man am Weg dorthin erfinden musste, ein Bild von sich selbst, für das man andere Vorstellungen seiner selbst zurücklassen musste, hinausgehen musste aus sich selbst, aus dem Selbstbild, das sich je aufs Neue aufbäumt und behauptet mehr zu sein als die Spur vergangener Tage, einer Summe gleich, die nicht zu Ende kommt, davor zurückschreckt, dass dies nun alles gewesen sei, als gäbe es keinen Rest, keinen Widerspruch, keinen Fehler. Was zählt denn?! Zählt denn nicht der Fehler, die Erzählung, dass etwas fehlt, noch nicht da ist, ein Fehlen, das die Suche vorantreibt, ein Begehren gebiert, den Magnetismus des Rahmens zu fliehen, anzukämpfen gegen die Schwerkraft der allzu leichten Ziele? 

Dieses Buch von Anita Frech war nie Ziel eines ihrer Werke, nicht eines zielte darauf ab, in einem Buch zu landen, Seite an Seite, gebundenen aneinander als hätten sie jetzt endlich ihren Ort gefunden, ihren Platz im Lauf der Jahre. Es sind nur deren Bilder, die sie hier zur Verfügung stellen, Bilder von Bildern, die aus dem Schatten treten, ins Licht einer Chronologie, die etwas anderes erzählt als ein Katalog oder eine Dokumentation bezeugen könnten. In ihrem Neben- und Hintereinander ergibt sich eine Reihung, die nie intendiert war, nicht voraussehbar, ein Ergebnis fern ab der Summe. Was sich hier ergibt, ist eine Gleichzeitigkeit, die all die Jahre nicht zusammenzählt aber zusammenzieht, zu einem Buch vereint, das nicht auf einen Überblick abzielt sondern auf eine Erzählung, die sich aus den unbekannten, nicht beabsichtigten Zügen nährt, die jeder Arbeit, jeder Bewegung und Absicht innewohnen, eine Erzählung, die sich dem Wissentlichen entzieht, die sich ergibt, im Vertrauen auf das Intuitive, das Ereignishafte, das nur jene Fragen beantwortet, die man sich erst nachher stellt. Gleiches gilt für die verschiedenen Genres und Medien, die Zeichnungen und Malereien, die Fotografien und Performances, die je zu ihrer Zeit im Vordergrund standen, sich abwechselten, versprachen, der Suche nach dem richtigen Ausdruck zur Seite zu stehen, sich versammelten zur Serie, zum Versuch einem Motiv nachzugehen, sich vom Experiment leiten zu lassen, um herauszufinden, was sich in dessen Verlauf ergibt. 

Im Buch finden sie nun zusammen, reflektieren sich im Horizont einer Gleichzeitigkeit, die Verbindungen und Kontinuitäten sichtbar werden lässt, die sich über die bloßen Grenzen zwischen den Medien und Genres hinwegsetzen, einer Resonanz das Wort reden, die selbst im Titel hörbar wird: »Muttertier im Vaterbauch«, sie klingen so elterlich wie amorph, verschieben die Grenzen zwischen Tier und Mensch, die Rollen der Geschlechter, sind schwanger mit einem Bild, in dem der Vater die Mutter trägt, unverdaut das Familiäre in sich hält. Was trägt der Körper, was erträgt er, wohin trägt er, was ihm als Person mitgegeben wurde, wie verträgt er sich mit dem Bild, das diese Person von ihrem eigenen Körper entwickelt, wie verträgt er sich mit den Bildern anderer Körper, mit denen er verglichen wird, von denen er unterschieden wird, in Szene gesetzt wird für diese, ja für die Person selbst, die mit ihrem eigenen Körper disputiert, sich selbst verführt, entfremdet, wiederfindet wie in einer Ehe, die nie geschlossen, nie vereinbart wurde? All die Entscheidungen, den Körper zu skizzieren, zu malen, zu fotografieren, Augenblicke einzufangen, ihn zu exponieren, zu entstellen und zum Verschwinden zu bringen, die Bilder einer Zwangsehe mit dem eigenen Körper, die unsichtbaren Narben, die sich von Lust und Verletzung nähren, ziehen sich hier zusammen, wechseln die Seiten, versammeln sich, Seite für Seite im Licht der Gleichzeitigkeit. 

So unstillbar der Demokratie der Disput innewohnt, das Wissen, dass sie dafür kämpfen muss, die Widersprüche und politischen Differenzen zuzulassen, sich immer wieder öffnen muss, um den vorschnellen Totalisierungen und Ausgrenzungen entgegenzutreten, sich offen halten zu müssen für jene, deren Stimmen noch nicht gehört wurden, so demokratisch erscheint der Körperbegriff, der sich in diesem Buch Gehör verleiht. Im ständigen Disput mit den Einflüssen, die sich in den Körper einschreiben, ihn durchdringen oder von diesem zurückgewiesen werden, widersetzt sich dieser einer finalen Definition, einem letzten Bild. Zielt das Porträt üblicherweise auf ein Bild, das einen Körper einfängt, so suchen die Porträts in diesem Buch die Devianz, die Züge, die gerade vom gültigen Bild abweichen, die noch nicht zum Ausdruck kamen, sich ungeahnt ergeben, gefehlt haben, Fehlstellen markieren, die Fehler, die zählen, wenn es darum geht, das Gesicht, den Körper von einer lebendigen Totenmaske zu unterscheiden. Dabei ringen die Zeichnungen und Performances auch mit medialen Vorgaben, mit Filmen und Fotografien, die zu ihrer Zeit versucht haben, den Gesichtern ein Antlitz der Zeit zu entreißen, Augenblicke einzufangen, die nicht zeitgemäß erschienen, die im Verborgenen gehalten oder ausgeblendet werden sollten, ausgegrenzt vom Gesellschaftsbild. Film Noir. Fotografien aus Polizeiarchiven aus den 1930ern, Resonanzen aus Magazinen und einem medialen Umfeld, das nicht nur Abbilder wiedergibt sondern Charaktere und Normen prägt, ungeschriebene Gesetze, die durch visuelle Gesetzmäßigkeiten wirken sollen, zählen sollen, sich auszahlen sollen. 

Eine Ökonomie der Posen und Dress-Codes, der Rollenbilder, die vom Pin-up-Girl bis zum Opfer reichen, vom Appeal zum Drama, preist ein ganzes Spektrum verfügbarer Identitäten an, die nur preisgeben, dass für die Suche nach dem Selbstbild schon ein ganzer Markt darauf wartet, dem Imaginären ein visuelles Pendant zur Seite zu stellen. War die Fotografie ein Medium, das es ermöglichen sollte, einen Ausschnitt aus dieser Wirklichkeit abzubilden, so orientiert sich in dieser Ökonomie die Wirklichkeit am Bild, das erst die Wirklichkeit generiert, die es dann abbildet. Seine Reproduzierbarkeit garantiert dann die Schnittstelle zur Ökonomie, die die alte Relation von Publikum und Darsteller*innen suggeriert. Die Fotografie ersetzt das anwesende durch ein potentielles Publikum und die Kamera spielt Bühne und Publikum zugleich. Die Selbstinszenierungen von Anita Frech für das fotografische Bild exponieren diese »Selbst-Öffentlichkeit«, die Ästhetik eines Selbstbildes im Horizont seiner Veröffentlichung, den Augenblick, indem die Abgeschiedenheit des Privaten und das Öffentliche nur mehr fusioniert zu denken sind. Das Bild selbst wird zum Ort, an dem sich das Private und Öffentliche treffen, unabhängig davon, wie abgeschieden der Ort der Aufnahme sein mag. Als Ort repräsentiert die Fotografie zugleich einen Raum, für den und in dem andere Kriterien geltend gemacht werden, sei es die Komposition, die Abstimmung der Farben, das Festhalten eines Augenblicks und einer Nähe, das Fragmentarische, das der Ausschnitt aus dem Kontext herausbricht. Diese Kriterien des Bildes ermöglichen es, die verschiedenen Genres, in denen Bilder auftauchen, ins Spiel zu bringen: Die Palette reicht hier von der Malerei und Zeichnung über die Fotografie bis zum Film, die in den Inszenierungen gleichzeitig miteinander oder gegeneinander in Beziehung gesetzt werden. Was medial der Fotografie zugeordnet werden würde, vermittelt sich zugleich als Malerei, Film und Performance. Ihre Verwendung des Selbstauslösers ermöglicht zudem, zugleich vor und hinter der Kamera zu agieren, zugleich die Rollen von Fotografin und Performerin einzunehmen, gleichzeitig Subjekt und Objekt zu sein, mithin der Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit Ausdruck zu verleihen, die einem zeitgenössischen Körperbegriff inhärent sind. Wie viele Seiten hat ein Buch, ein Körper? Wer zählt denn, was zählt?! 

Andreas Spiegl
Wien, 2020

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